Die ideologische Polarisierung in unserer Gesellschaft ist alarmierend und Besorgnis erregend. Wenn unterschiedliche Positionen häufig nicht mehr ausdiskutiert werden können und zu rigiden Frontenbildungen führen, wenn haarsträubende Fake News für viele Menschen – leider auch für einzelne Ärzte – mehr gelten als wissenschaftliche Daten, und wenn die Bereitschaft zum Ausgrenzen und Verurteilen gefährlich zunimmt, dann wird es bedrohlich für eine offene Gesellschaft. Dann besteht nicht nur Gefahr für die Demokratie, sondern auch für ein dem Patientenwohl verpflichtetes ärztliches Miteinander.
Also bitte Schluss mit hemmungslosen Polarisierungen, und mehr Bereitschaft zum Dialog, zum Meinungsaustausch und zu einem lösungsorientierten gemeinsamen Konsens.
Generell ist in unserer Gesellschaft ein Trend zu beobachten, der vielfach als Hyper-Moralisierung von Auffassungsunterschieden bezeichnet wird: Das weltanschauliche Gegenüber hat nicht nur einfach eine andere Meinung, sondern wird zum gewissenlosen, amoralischen und gefährlichen Feind punziert, mit dem man nicht spricht, den man diskreditiert und bekämpft. Kontroverse Themen wie die Flüchtlingswelle 2015, der Klimawandel und jetzt die Pandemie liefern hier Anschauungsmaterial. Tragisch, dass gegenwärtig eine Verhärtung der Fronten auch in der Ärzteschaft zu beobachten ist.
Einer oft verwendeten Definition zu Folge ist Medizin eine qualifizierte Dienstleistung, die sich wissenschaftlicher Methoden bedient, und deren Ziel es ist, Menschen bestmöglich zu helfen, Krankheiten nach Möglichkeit zu verhindern und zu heilen.
Selbstverständlich haben Patienten ein Anrecht darauf, dass Ärzte sie gemäß den gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen informieren und behandeln. Die überwältige Mehrheit unserer Kolleginnen und Kollegen ist auch im Corona-Kontext einer evidenz-basierten Medizin verpflichtet und leistet verantwortungsvolle, kompetente und patientenorientierte Arbeit. Medizinische Verantwortungslosigkeiten einer sehr kleinen Minderheit, die sachlich und mit Studien leicht widerlegt werden können, sind zu verurteilen. Trotzdem soll jede Kollegin und jeder Kollege immer individuell, auf Basis seiner Beurteilung frei entscheiden können dürfen. Diese Grundregel muss selbstverständlich auch in der Pandemie Gültigkeit haben.
Mir ist klar, dass mein Wunsch nach mehr Dialog in manchen Fällen an der Realität scheitert. Wer Fakten konsequent leugnet und jeden Andersdenkenden grundsätzlich diffamiert, oder sogar zur Gewalt gegen Gesundheitsinstitutionen aufruft, scheidet wohl als Dialogpartner aus. Grundsätzlich bin ich für Null-Toleranz bei Bedrohung und Behinderung von Gesundheitspersonal und bei Hass und Drohungen im Internet.
Aber für mich geht zum Beispiel auch die Forderung, ungeimpfte Corona-Positive künftig nicht zu behandeln, eindeutig zu weit. Doch ist Reden, wo immer es möglich ist, besser als Verurteilen und Gesprächsverweigerung. Generell ist schon vieles erreicht, wenn eine Abrüstung der Worte und Vorwürfe gelingt. Und ich wünsche mir den Konsens, dass wissenschaftliche Evidenz die Basis für ärztliches Handeln sein muss.
Wir Ärzte tragen unsere Kompetenz und Bereitschaft zur bestmöglichen Patientenversorgung bei, wir sind Freiberufler und dem Hippokratischen Eid verpflichtet. Rahmenbedingungen wie zum Beispiel die Einführung der Impfpflicht definiert die Politik – diese Arbeitsteilung ist sinnvoll und bewährt.
Wir Ärzte sollten nicht polarisieren, sondern verbinden.