Kranke Kassen ohne Ärzte

Wer die aktuellen Verlaufsstatistiken von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten analysiert, kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: Immer mehr niedergelassene Kassenärztinnen und Kassenärzte wenden sich von den Krankenkassen ab. Anders gesagt: Sie wenden sich den Kassen oft gar nicht erst zu. Weil sie unter den geltenden Bedingungen einfach keinen Kassenverträge abschließen möchten und sich lieber für den Beruf des Wahlarztes entscheiden. Die Tendenz weist heute sehr klar in Richtung Krankenkassen ohne Ärzte.

Mehr als 60 Prozent erreichen in den nächsten 10 Jahren Pensionsalter

Derzeit gibt es in Österreich 3.880 niedergelassene Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag. Das sind um fast 300 weniger als im Jahr 2006. Von den heute aktiven niedergelassenen Allgemeinmedizinern mit Kassenvertrag erreichen in den nächsten 10 Jahren 61 Prozent das gesetzliche Pensionsalter. Ein Mediziner-Nachwuchs, der das auch nur annähernd kompensieren könnte, ist nicht in Sicht. Denn gerade auf junge Ärzte hat ein Kassenvertrag offensichtlich wenig Anziehungskraft.

Die Zahl der Fachärzte mit Kassenvertrag ist seit dem Jahr 2006 etwa gleichgeblieben. In den nächsten 10 Jahren werden 63 Prozent von ihnen das gesetzliche Pensionsalter erreichen. Auch hier fehlt der Nachwuchs.

Tendenz in Richtung Wahlarzt

Diesem offensichtlichen Attraktivitätsverlust von Kassenverträgen unter den aktuellen Rahmenbedingungen steht in einem sehr klaren Kontrast eine Tendenz in Richtung Wahlarzt gegenüber. Waren es 2006 noch Österreich weit 7.017, sind es jetzt bereits 10.346, das ist ein Plus von fast 50 Prozent.

Die dahinter stehenden Motive auf den Punkt gebracht: Immer mehr Ärzte haben die Kassenverträge unter den gegebenen Bedingungen satt. Sie bevorzugen die Freiheiten einer Tätigkeit als Wahlarzt. Und besonders viele junge Mediziner zeigen dem Sozialversicherungs-System überhaupt die kalte Schulter.

Verteilungsproblem

Damit stehen wir vor dem Phänomen, dass es zwar in Österreich eine zahlenmäßig gute Ausstattung mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gibt, dass jedoch der Anteil der Kastenvertragsärzte galoppierend schrumpft. Wir haben damit ein Verteilungsproblem, und die sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen dieser Entwicklung sind klar: Wer es sich leisten kann, geht zum Wahlarzt. Und wer sich das nicht leisten kann, hat zunehmend ein echtes Problem.

Heute schon heißt es für diese Patienten häufig: bitte warten! Denn der niedergelassene Kassenarztbereich ist schon längere Zeit massiv überfordert, weil er von der Gesundheitspolitik über viele Jahre vernachlässigt wurde. Diese Überforderung wird sich angesichts der aktuellen prekären gesundheitspolitischen Entwicklungen unvermeidlich weiter verschärfen. Viele Spitäler fahren derzeit aus Kostengründen ihre stationären und ambulanten Leistungen zurück, der Stellenwert des niedergelassenen Bereichs wird also deutlich zunehmen.

Versorgungsengpässe in der sozialen Medizin bringen ernste soziale und gesundheitliche Probleme mit sich, die medizinisch und ethisch schlicht inakzeptabel ist: Eine gute Gesundheitsversorgung darf keine Frage der Einkommensverhältnisse sein, wird es aber zusehends.

Das „Zukunftsbild“ des Bundes-Zielsteuerungsvertrages

Wie heißt es doch im Bundes-Zielsteuerungsvertrag zum Thema „Zukunftsbild“: Die Vertragsparteien „arbeiten gemeinsam für eine qualitativ hochstehende und effiziente Gesundheitsversorgung für alle Menschen, die durch ein solidarisches Gesundheitssystem nachhaltig sichergestellt wird.“ Daran müssen Sozialversicherungen und Gesundheitspolitik angesichts der sich abzeichnenden Erosion des kassenärztlichen Bereiches mit Nachdruck erinnert werden. Denn sie sind an diesen Entwicklungen maßgeblich beteiligt und sind nun gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Beruf des niedergelassenen Kassenarztes endlich wieder erstrebenswerter machen, als er es derzeit ist.

70 Kassenstellen sind unbesetzt

Derzeit sind in Österreich immerhin rund 70 Kassenstellen unbesetzt, und das zu einem großen Teil nicht in entlegenen Regionen, sondern in Wien und größeren und mittelgroßen Städten. Das geht quer durch alle Fächer, besonders betroffen sind Psychiatrie und Kinderheilkunde. Fast 70 unbesetzte Kassenstellen bedeuten bei rund 1.000 Patienten im Quartal – 4.000 Patienten pro Jahr pro Arzt – pro Jahr mehr als eine Viertelmillion nicht betreute Patienten.

Ursachenforschung

Die Ursachenforschung für diese Trendwende fällt nicht schwer, wir Ärzte kennen die Motive und haben wiederholt davor gewarnt. Im Folgenden drei davon:

Erstens: Ein Motiv, warum sich Ärzte gegen einen Kassenvertrag entscheiden, ist die stetig zunehmende Belastung durch bürokratische Tätigkeiten, die von den Kassen an den niedergelassenen Bereich ausgelagert werden. Diese bringen unseren Patienten häufig nichts, sondern kosten nur wertvolle Zeit.

Zweitens: Ein weiterer Umstand, der niedergelassenen Kassenärzten ihre Arbeit erschwert, sind die so genannten Deckelungen und Degressionen. Unser Sozialversicherungs-System beruht unter anderem auf dem Herstellen einer künstlichen Leistungsverknappung mit dem Ziel des Sparens. Deckelungen sind willkürliche festgesetzte Obergrenzen bei ärztlichen Leistungen. Ist der „Deckel“ erreicht, honoriert die Kasse dem Kassenarzt weitere Leistungen dieser Art nicht mehr. Dabei spielt der tatsächliche Patientenbedarf keine Rolle.

Drittens: Die Kontrolle von Oben wird für niedergelassene Kassenärzte immer unerträglicher und hat im berüchtigten „Mystery Shopping“ einen traurigen Tiefpunkt erreicht.

Ärztinnen und Ärzte sind wohl die am besten ausgebildete Berufsgruppe. Wir sind aber auch die wohl am meisten kontrollierte Profession. Zum Beispiel durch die ÖQMED, in deren wissenschaftlichem Beirat zum Beispiel auch das Gesundheitsministerium, Sozialversicherungen und Patientenanwälte vertreten sind. Andererseits haben Sozialversicherungen viele Möglichkeiten, Vertragsärzte zu kontrollieren, und machen davon auch jetzt schon Gebrauch.

Gegen eine sinnvolle Qualitätskontrolle wird im Sinne einer bestmöglichen Performance vernünftigerweise niemand etwas einzuwenden haben. Sehr wohl aber gibt es etwas einzuwenden gegen ein schikanöses Vorgehen wie das „Mystery Shopping“. Zu Recht finden Ärzte das als Zumutung bis hin zur Kränkung. Attraktiver wird ein Kassenvertrag dadurch mit Sicherheit nicht.

Gesundheitspolitisches Steuer herumreißen

Es geht also jetzt darum, das gesundheitspolitische Steuer herumzureißen, damit die Versorgung nicht weiter Schaden nimmt. Immerhin fiel Österreichs Gesundheitswesen im European Health Consumer Index 2015 auf Platz 12 von 35 zurück – 2009 hatten wir noch Platz 4. Dieser Sinkflug muss gestoppt werden, auch indem verbesserte Bedingungen für niedergelassene Kassenärzte diesen Beruf wieder attraktiver machen.

Dabei gelten, unter anderem, folgende Grundsätze:

  • Weniger überflüssige Bürokratie, Schluss mit zeitaufwändigen und nicht sinnvollen Bewilligungs-Systemen, dafür mehr Zeit für unsere Patienten.
  • Schluss mit Leistungskürzung und willkürlichen Deckelungen. Sie behindern die Versorgung der Patienten, tragen zu langen Wartezeiten bei, dienen ausschließlich dem Einsparen ohne Berücksichtigung des realen Patientenbedarfs.
  • Weniger sinnlose „Kontrollen von Oben“, ersatzloses und sofortiges Streichen des Mystery Shopping. Dafür mehr Wertschätzung für die Ärzteschaft und mehr Respekt vor der ärztlichen Tätigkeit.
  • Mehr Kassenpraxen, unter deutlich besseren Rahmenbedingungen. Damit sich Interessenten für die zusätzlichen 1.400 Kassenarzt-Stellen finden, die wir brauchen, um die soziale Medizin nicht weiter zu gefährden und um Spitäler wirksam zu entlasten.