Ärzte-Statistik: Gesundheitssystem schlecht für die Zukunft gerüstet

 

Nachdem niedergelassene Ärztinnen und Ärzte auch in der Corona-Krise an vorderster Front und als erste Ansprechpartner für ihre Patienten da waren und sind, ist eine ausreichend hohe Zahl niedergelassenen Medizinern von zentraler versorgungspolitischer Bedeutung. Nicht zuletzt ist es diesen systemrelevanten Ärztinnen und Ärzten zu verdanken, dass Österreich bisher recht gut durch die Krise gekommen ist. Die Politik sollte sich dessen bewusst sein und der Nachwuchsförderung und ärztlichen Bestandssicherung höchste Priorität einräumen, führte ich heute auf einem Pressegespräch in der Gesellschaft der Ärzte aus.

Ein gut ausgestatteter, und das bedeutet für die Zukunft ein deutlich ausgebauter, niedergelassener ärztlicher Bereich ist natürlich auch unabhängig von COVID-19 wesentlich, weil die Bevölkerung wächst und älter wird und somit der Versorgungsbedarf steigt. Dass es hier noch immer Defizite gibt, bestätigte zuletzt sehr eindrucksvoll die in Alpbach vorgestellte Studie über die „Leistungskraft regionaler Gesundheitssysteme in Zeiten von COVID-19“. In ihrem Bundesländervergleich der ambulanten Versorgung kamen die Gesundheitsökonomen Maria Hofmarcher-Holzhacker und Christopher Singhuber unter anderem zum Ergebnis, dass die kassenärztliche Versorgung in Österreich „überall im Rückzug“ sei. Sie fordern deshalb einen Ausbau der ambulanten Versorgung durch mehr Kassenverträge und Anreize für eine breite Primärversorgung. Das bestätigt sehr klar die Position der Ärztekammer, die das seit Jahren fordert. Die Bedeutung eines gut ausgestatteten niedergelassenen ärztlichen Bereichs wird angesichts der steigenden Corona-Infektionszahlen weiter zulegen.

Kein klarer Trend zu einer Verjüngung bzw. zu signifikant mehr ärztlichem Nachwuchs

Eine Analyse der aktuellen Ärztezahlen und der ärztlichen Altersstatistik liefert leider wenig Grund zur Hoffnung auf Besserung. Bei der Alterspyramide der insgesamt 18.753 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in Österreich gab es in den vergangenen Jahren keinen klaren Trend zu einer Verjüngung bzw. zu signifikant mehr ärztlichem Nachwuchs, der die künftige Versorgung absichern könnte. Heute haben wir die höchste Alters-Konzentration bei einem Lebensalter von 57-60. In bereits fünf Jahren wird jede/r Vierte der heute praktizierenden niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte das Pensionsalter erreicht haben. In zehn Jahren wird es mit rund 47 Prozent bereits jede/r Zweite sein.

Um die pensionsbedingten Abgänge im niedergelassenen Ärztebereich kompensieren zu können, hat die Österreichische Ärztekammer einen mittelfristigen altersbedingten jährlichen Nachbesetzungsbedarf von 969 Ärztinnen und Ärzten errechnet. So viele braucht unser Gesundheitssystem, um den Status quo in fünf Jahren aufrecht zu erhalten. Bei diesen Berechnungen sind zusätzliche Bedarfssteigerungen durch eine größer und älter werdende Gesellschaft noch gar nicht berücksichtigt.

Derzeit gibt es keine Aussicht, diesen Bedarf decken zu können – jedenfalls nicht aus dem medizinischen Nachwuchs heraus, den wir in Österreich ausbilden. Es bedarf großer Anstrengungen und attraktiver Rahmenbedingungen, um den jährlichen Nachbesetzungsbedarf erfüllen zu können. Wir müssen auch Ärzten, die in anderen Ländern studiert haben, ausreichend attraktive Angebote machen.

ÖGK-Verträge: Sukzessives Ausbleiben des Nachwuchses

Bei den 7.205 Ärztinnen und Ärzten mit einem ÖGK-Vertrag sieht die Situation sogar noch etwas schlechter aus als bei den niedergelassenen Ärzten insgesamt. In fünf Jahren werden bereits 28 Prozent das Pensionsantrittsalter erreicht haben, in zehn Jahren rund 52 Prozent. Besonders alarmierend ist hier das sukzessive Ausbleiben des Nachwuchses. Das ist nicht in Einklang zu bringen mit dem mittelfristigen Nachbesetzungsbedarf – auf fünf Jahre gerechnet – von 406 ÖGK-Ärzten pro Jahr.

Potenziell besonders bedrohte Fächer sind dabei die Gynäkologie und der HNO-Bereich: Von den heute 394 praktizierenden Frauenärzten mit ÖGK-Vertrag werden in fünf Jahren fast 40 Prozent das Pensionsalter erreichen, in zehn Jahren rund 61 Prozent. Bei den 235 HNO-Ärzten mit ÖGK-Vertrag sind das in fünf Jahren rund 28 Prozent, in zehn Jahren ebenfalls bereits 61 Prozent. Zudem werden bei den 158 Fachärzten für Lungenheilkunde in fünf Jahren rund 34 Prozent, in zehn Jahren 59 Prozent das Pensionsalter erreicht haben. In den drei genannten Fächern nimmt der Nachwuchs in alarmierender Weise ab – Entwicklungen, die schon aufgrund der gegenwärtig recht niedrigen Anzahl solcher Fachärzte massiv auf die Versorgung durchschlagen müssen.

Ähnlich verhält es sich im für die Versorgung so wichtigen Fach der Allgemeinmedizin: Von den derzeit 3.862 niedergelassenen Allgemeinmedizinern erreichen in 5 Jahren 28 Prozent und in 10 Jahren 48 Prozent das Pensionsalter.

Diese Perspektive bekräftigt einmal mehr unsere Forderungen, dass die Rahmenbedingungen der kassenärztlichen Tätigkeit deutlich attraktiver werden müssen, damit sich junge Ärzte wieder für einen Kassenvertrag interessieren.

Ärzte ohne Kassenvertrag: Altersspitze bei den 57-58jährigen

Bei den insgesamt 10.632 Ärztinnen und Ärzten ohne Kassen – das sind inzwischen um etwa 50 Prozent mehr als es Ärzte mit ÖGK-Vertrag gibt – finden wir eine Spitze bei den 57-58jährigen. Insgesamt werden in fünf Jahren rund 24 Prozent und in zehn Jahren rund 44 Prozent das Pensionsantrittsalter erreicht haben. In den nächsten fünf Jahren sehen wir hier einen altersbedingten zahlenmäßigen Nachbesetzungsbedarf von rund 505 Ärzten pro Jahr.

Zahlen als Basis für gesundheitspolitische Maßnahmen

  • Diese Zahlen sollten der Politik und den Sozialversicherungen eine Grundlage für wirksame Aktionen gegen den Ärztemangel bieten. Nachwuchsförderung und ärztliche Bestandssicherung müssen als höchst prioritäre Themen auf die gesundheitspolitische Agenda. Gefordert ist ein nationaler Schulterschluss zwischen Gesundheits- und Bildungspolitik, Bund und Ländern, Spitalerhaltern und MedUnis, Sozialversicherungen, etc., mit konsequenter Einbeziehung der Ärzteschaft.
  • Die Corona-Krise belehrt auch all jene Gesundheitsökonomen eines Besseren, die seit Jahren die angeblich „höchste Ärztedichte Europas“ in Österreich oder eine angeblich problematisch hohe Zahl von Spitälern und Spitalsbetten kritisieren. Solche Schwadronierereien halten der harten Versorgungsrealität in Zeiten der Pandemie nicht stand, wahr ist das Gegenteil davon.
  • Ohne zusätzliches Geld für das Gesundheitssystem wird es nicht gehen. Das bestätigt auch die in Alpbach vorgestellte Studie. Deren Autoren schätzen, um Covid-19 und seine Folgen zu überwinden, einen Bedarf für einen „AT4Health“-Fonds von etwa 4,2 Milliarden Euro, davon 600 Millionen Euro für Investitionen in bessere Gesundheitsleistungen. Solche Investitionen sind gut für die Gesundheit und gut für die Wirtschaft. Und besonders der in der Vergangenheit oft massiv ausgehungerte niedergelassene ärztliche Bereich braucht speziell zu Corona-Zeiten massive Unterstützung, um weiterhin leistungsfähig zu bleiben. Jetzt ist die Politik am Zug.
  • Um Ärztinnen und Ärzte in Österreich zu halten bzw. nach Österreich zu bekommen, bedarf es international konkurrenzfähiger Arbeitsbedingungen für niedergelassene Ärzte. Wir stehen heute in einem globalen Wettbewerb, und wir müssen jungen Ärzten ausreichend attraktive berufliche Rahmenbedingungen bieten, damit sie hier arbeiten und nicht in anderen Ländern, in denen ihnen mehr geboten wird.
  • Zu solchen Rahmenbedingungen gehört jetzt, als ganz akute Antwort auf die Pandemie, auch eine Kompensationszahlung durch die Regierung oder die Sozialversicherungen für niedergelassene Ärzte für ihre Umsatzeinbußen während des Shutdown. Schließlich hatten die meisten kassenärztlichen Praxen und zahllose Wahlarztpraxen während der Spitzenperiode der SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 Krise geöffnet. Das bedeutete laufende Vorhaltekosten für Personal und Infrastruktur. Gleichzeitig verzeichneten sehr viele Arztpraxen in dieser Zeit trotz anhaltender Ausgaben immense Umsatzeinbrüche, weil die Patienten auf Anordnung der Behörden Arztpraxen nur in Notfällen aufsuchten sollten, um das Infektionsrisiko möglichst niedrig zu halten. Es wurden Patientenrückgängen um bis zu 90 Prozent berichtet. Viele Ärzte würden das wirtschaftlich kein zweites Mal überleben. Und weitere Einbrüche bei den Ordinationszahlen kann sich unser Gesundheitssystem auf keinen Fall leisten.